Mit Erschrecken hörte ich heute morgen davon, dass die Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU − Codename: Brexit − gestimmt hat, was mich infolgedessen traurig gestimmt hat.
Natürlich kann man jetzt sagen, das sei vorhersehbar gewesen, das Vereinigte Königreich hat schließlich in der europäischen Zusammenarbeit schon immer gerne Sonderwege beschritten. Statt des Euros behielten die Briten lieber Britische Pfund, sie sind nicht Teil des Schengen-Raumes und natürlich gelten noch immer der Linksverkehr und das imperiale Maßsystem auf der Insel − alles Dinge, an die man sich als Europäer gewöhnt hatte, es waren halt kleine Marotten der Briten, die schon immer als ganz besonderes Völkchen galten.
Nun fühlten sich die Briten offenbar als ein solch besonderes Völkchen, dass sie die EU nicht mehr für notwendig hielten.
Die Argumente der Austritts-Befürworter waren und sind die strengen Regulierungen der EU, die Normen und Gesetze, die »Brüsseler Bürokratie« und die vielen Abgaben, die an die EU zu zahlen waren. Und weil Argumente nicht reichten, wurden allerhand Unwahrheiten beigemischt, die »die kleinen Leute« zum Aufschreien bringen und die nachträglich von der EU wieder richtig gestellt werden müssen.
Es stimmt, dass Großbritannien viel Geld an die EU weitergeben muss(te), im Gegenzug erhielt Großbritannien aber auch sehr viele Fördergelder zurück. Häufig sogar mehr, als es abgegeben hatte.
Viele Intellektuelle in Großbritannien forderten schon früh die Bürger auf, für einen Verbleib in der EU zu stimmen. Und die Argumente dafür sind durchaus sinnvoll. So findet die ohnehin schwache Industrie Großbritanniens sehr gute Handelspartner im Europäischen Binnenmarkt, insgesamt gehen fast zwei Drittel des Exportes von ganz Großbritannien in andere EU-Staaten. Auch die Fördergelder erreichen die Bürger direkt, zum Beispiel im Europäischen Fond für regionale Entwicklung. Ein Brexit würde den Handel mit den wichtigsten Partnern deutlich erschweren und den Inselstaat für Startups, aber auch für bestehende Firmen weitaus unattraktiver machen.
Insbesondere der Finanzsektor, der in Großbritannien sogar sehr erfolgreich ist, könnte in andere EU-Staaten abwandern, denn auch Finanzgeschäfte zwischen GB und EU dürften in Zukunft deutlich schwieriger werden. Damit sieht die Zukunft für Großbritannien nicht ansatzweise so rosig aus, wie es sich viele Briten jetzt noch ausmalen, zumal fast jeder vierte Job dort etwas mit dem Finanzsektor zu tun hat.
Dabei ging es in der ganzen Diskussion um Brexit oder Bremain gar nicht primär um Argumente. Es ging nicht um wirtschaftliche Faktoren, um Handel oder Fördergelder. Es ging um Nationalstolz.
Viele Briten träumten schon lange von einer »alten Größe«, in der das Land noch mehr Weltrang hatte, als es mit dem Commonwealth noch weltweit vertreten war und Einfluss hatte. In dieser Zeit hat Großbritannien es doch schließlich auch geschafft − und zwar ganz alleine. Das stimmt zwar, aber früher ist nicht heute. Heute droht Großbritannien ein sozial schwaches Land zu werden, die Industrie bricht weiter ein. Ein Vorzeigestaat ist es somit sicherlich nicht. Aber das zählt nicht. Denn mit einer Sache liegt Großbritannien so richtig im Trend. Es ist, könnte man sagen, ein europäischer Trend: Der Trend zum Nationalismus.
Und Nationalismus schaltet bekanntlich reihenweise die Gehirne aus. Der Trend setzt sich in weiteren europäischen Staaten fort: Polen wird von einer rechtskonservativen, ebenfalls nationalistisch geprägten Regierung geführt, die gerne den Rechtsstaat aushebelt, in Ungarn ist es ebenso. In Österreich ist die rechtspopulistische FPÖ eine der stärksten politischen Kräfte und hätte fast den Bundespräsidenten gestellt. In Frankreich ist der Franc National, ebenfalls eine rechtspopulistische Partei, auf dem Vormarsch und könnte die nächste Regierung und den nächsten Präsidenten stellen. Und auch in Deutschland erhält die rechtspopulistische AfD inzwischen zweistellige Stimmergebnisse.
Was all diese Parteien und politischen Kräfte eint ist ein Egoismus Europa gegenüber. Anstatt die europäische Zusammenarbeit auszubauen, soll nach deren Willen wieder mehr auf nationaler Ebene entschieden werden. Sollten diese Ziele umgesetzt werden, hat das ein Scheitern der europäischen Einheit zur Folge, denn die EU funktioniert nur, wenn alle zusammenhalten.
Es gibt einen Grund, warum rechtspopulistische Stimmen in letzter Zeit so populär sind wie nie zuvor. Dazu gehören die Euro- und sicherlich auch die Flüchtlingskrise. Was aber vor allem dazu beigetragen hat, ist die Struktur der Europäischen Union. Die EU ist ein gesichtsloses und kompliziertes Gebilde, das keinen klaren Vorsitzenden als Bezugsperson hat, das keine wirksame Außenkommunikation betreibt und das bislang deutlich zu wenig für eine kulturelle Zusammenarbeit getan hat.
Sich mit der EU zu identifizieren, das System zu durchschauen, zu verstehen und am Ende auch noch gut zu finden, all das ist sehr schwer. Die EU-Bürger fühlen sich auch nach Jahrzehnten noch immer als Polen, Italiener und Dänen − und nicht primär als Europäer. Und das liegt daran, dass das stetige Zusammenwachsen der europäischen Staaten nicht konsequent genug betrieben wurde.
Natürlich ist die Abgabe von Kompetenzen an das große Europa mit Ängsten verbunden, hört man doch ständig Gruselgeschichten von Brüsseler Lobbyisten und zweitrangigen, wahrscheinlich korrupten EU-Politikern, die schlechte Entscheidungen treffen. Aber nur durch Aufwertung der europäischen Institutionen, die über mehr Macht und dementsprechend auch über mehr Aufmerksamkeit verfügen, könnten sich die Bürger Europas über eine gemeinsame Interessensvertretung als Europäer identifizieren.
Ein mächtiges Europa wäre zudem auch ein ernstzunehmender Partner oder Konkurrent für andere große Staaten wie die USA oder China. Die europäischen Kompetenzen wären gebündelt, man würde nicht mehr so klein dastehen und müsste sich Freihandelsabkommen andrehen lassen.
Was die EU aus dem Brexit mitnehmen kann, ist der Auftrag zum Wandel. Er muss nicht unbedingt so stattfinden, wie eben beschrieben, aber Europa muss seinen Bürgern wieder näher kommen. Es muss sich den Bürgern öffnen, muss verständlicher und transparenter werden. Die Bürger müssen ein Gefühl für ihr Europa bekommen. Ansonsten warten die Populisten schon vor der Tür.
Nach Großbritannien werden auch weitere Staaten auf die Idee kommen, aus der EU auszutreten. Tschechien hatte schon Interesse bekundet, rechtspopulistisch geführte Staaten sowieso. Es ist für uns nun an der Zeit, ihnen entschieden entgegenzutreten und gleichzeitig unsere Politiker zu einer EU-Reform zu drängen, die dem europäischen Projekt positiv gegenüber eingestellt ist.
Schottland, das sich ursprünglich von Großbritannien abspalten wollte, möchte übrigens weiterhin in der EU bleiben. Es ist wichtig, dass es auch diese Stimmen gibt, denn sie zeigen uns, dass das Projekt Europa noch nicht verloren ist.
Wir Europäer haben eine Verantwortung unserem Kontinent gegenüber. Wir sollten sie nutzen.