Kurz nach 6 Uhr morgens. Ich stehe am Bremer Hauptbahnhof und warte auf meinen Zug. Das ist ungewöhnlich, denn zum einen bin ich wegen der Pandemie schon ewig nicht mehr Zug gefahren und zum anderen werde ich heute Abend nicht wieder in Bremen ankommen, wie sonst bei Tagesausflügen mit der Bahn.
Zum ersten Mal seit über einem Jahr mache ich Urlaub, allerdings ohne festes Ziel. An jedem Tag überlege ich spontan, wohin ich als nächstes fahren möchte. So werde ich zwölf Tage lang durch Deutschland reisen und mir vor allem die Ecken anschauen, die ich noch nicht so gut kenne. Jeden Abend schreibe ich auf, was ich gelernt und was ich gesehen habe. Nun also Tag 1.
Der Zug wird mich nach Hamburg bringen. Hamburg ist natürlich nicht mein Ziel, ich war schon oft genug dort. Von Hamburg geht es über verschlungene Wege bis nach Heringsdorf auf Usedom. Aber der Reihe nach.
Es ist kein Zufall, dass ich gerade diese zwei Wochen unterwegs bin. Vom 13. September bis zum Wahlsonntag können alle, die ein Abo-Ticket für den Nahverkehr besitzen, ein so genanntes Deutschland-Abo-Upgrade in Anspruch nehmen. Das bedeutet, dass man zum Beispiel mit einem Jahresticket für Bremen in diesen zwei Wochen kostenfrei in ganz Deutschland den Nahverkehr benutzen kann, auch in Zügen. Und weil das auch für Semestertickets gilt, habe ich mich auf den Weg gemacht. Natürlich dauert die Fahrt mit Nahverkehrszügen deutlich länger als mit einem ICE. Dafür sieht man mehr. Menschen, Bahnhöfe, Orte sausen nicht nur vorbei. Es bleibt genügend Zeit, sie anzuschauen und, falls es Menschen sind, mit ihnen zu sprechen. Hätte ich mit dem Intercity fahren können, wäre ich in wenigen Stunden und mit zweimaligem Umsteigen auf Usedom angekommen. Mit Nahverkehrszügen dauert es acht Stunden und man muss bis zu sechsmal umsteigen.
Eigentlich hätte mein 6-Uhr-Zug einer dieser typischen Pendlerzüge sein müssen, die schon voll starten und mit jedem Bahnhof noch ein Stückchen voller werden. Erstaunlicherweise bleibt der Zug vergleichsweise leer. Noch leerer ist der nächste Zug, der mich nach Lübeck bringt. Die Landschaft in Schleswig-Holstein ist sehr leicht hügelig. Man könnte fast meinen, die Meeresoberfläche sei hier zu Landmasse erstarrt, so wellig sehen die Wiesen und Felder aus.
Nach Lübeck beginnt Mecklenburg-Vorpommern. Ich war schon einmal für einen Tagesausflug dort und habe auch darüber geschrieben. Was in diesem Text vielleicht zu kurz gekommen ist und ich nun nachholen möchte ist, dass der Eisenbahnverkehr in Mecklenburg-Vorpommern anders funktioniert als vielleicht in Niedersachsen. Während in Niedersachsen fast jeder Regionalzug stündlich fährt und es auf fast jeder Strecke einen beschleunigten Regionalexpress gibt, fahren einige Züge in MV (was die Kurzform von Mecklenburg-Vorpommern ist) nur jede zweite Stunde. Und auch ein langsamer kleiner Dieselzug, der an jeder Milchkanne hält, darf hier den Titel »Regionalexpress« tragen.
Und in einen solchen kleinen Dieselzug von Lübeck nach Bad Kleinen, einem wichtigen Eisenbahnkreuz in MV, quetschen sich nun viel zu viele Menschen. Nicht alle finden einen Sitzplatz, auch neben mir wird es kuschelig. Mir gegenüber sitzt eine Gruppe Informatikstudenten aus Lübeck. Auch sie nutzen das Abo-Upgrade, sie fahren für einige Tage nach Berlin, wie einer von ihnen bereitwillig erzählt. In Bad Kleinen trennen sich unsere Wege. Sie fahren weiter gen Süden, ich gen Norden zu meinem ersten größeren Zwischenstopp, nach Rostock.
Als ich das letzte Mal in Rostock war, hatte ich mit Lütten Klein, Lichtenhagen und Warnemünde zwar drei bekannte Teile dieser Stadt gesehen, nicht aber das Stadtzentrum. Das muss heute nachgeholt werden.
Mit der Straßenbahn geht es zum Neuen Markt, der erstaunlich hübsch ist. Direkt am Platz steht das pastellfarbene Rathaus, gegenüber ist der Eingang in die Fußgängerzone. Nachdem mich ein kleiner Stand mit einer Bratwurst ausgestattet hat, entdecke ich die Universität, die nicht nur unverschämt schön aussieht (gerade im Vergleich zur Bremer Uni), sondern auch noch mitten in der Innenstadt an einem ebenfalls schönen Platz steht.
Langsam wird es Zeit, zum Bahnhof zurückzukehren. Ich habe noch einiges an Strecke vor mir. Nun rächt sich mein Glaube an den Stundentakt. Der Zug nach Stralsund fährt nur jede zweite Stunde. Und ich habe unverhofft eine weitere Stunde in Rostock. Ärgerlich nur, dass ich sie eigentlich in Stralsund verbringen möchte. Aber wenn ich rechtzeitig in Heringsdorf ankommen will, muss ich Stralsund wohl oder übel auslassen. Also laufe ich etwas um den Bahnhof herum und verbringe die Stunde schließlich lesend auf dem Bahnsteig.
Mecklenburg-Vorpommern ist nicht besonders dicht besiedelt. Man kann minutenlang aus dem Zugfenster schauen, ohne ein einziges Haus zu sehen. Manchmal wirkt die Landschaft ganz unberührt, als wären die Eisenbahngleise mitten durch vergessene Ecken des Landes gebaut worden.
Stralsund muss wirklich schön sein, zumindest lässt sich das vom Zugfenster erahnen. Schöne Altbauten stehen manchmal direkt neben der Eisenbahn und eine Kirche ragt hinter diesen Häusern hervor. Zu gerne würde ich hier aussteigen, aber leider reicht die Zeit nicht. Zumindest habe ich, als ich ankomme, eine Viertelstunde Umsteigezeit, in der ich die großen Gemälde in der Bahnhofshalle bestaunen kann.
Der nächste Zug soll mich zwar nur nach Züssow bringen, würde aber theoretisch auch bis nach Berlin fahren. Irgendwie kommt es mir komisch vor, dass ein Regionalzug derartig lange Strecken zurücklegt. Ein anderer Zug fährt sogar von Rostock über Berlin bis Lutherstadt Wittenberg in Sachsen-Anhalt. Das wäre in etwa, als würde ein Regionalexpress von Bremerhaven ins Ruhrgebiet oder bis nach Düsseldorf fahren, ohne dass ein Umsteigen nötig wäre. Mir kommt das sehr lang vor.
In Züssow steige ich in die Usedomer Bäderbahn. Auf den Netzplänen sieht es aus, als führe deren Strecke immer an der Küste entlang und verbinde Seebad um Seebad. In Wirklichkeit ist die Strecke vergleichsweise unspektakulär. Das Wasser ist nur auf wenigen kurzen Abschnitten zu sehen und auch sonst hatte ich nicht das Gefühl, auf einer Insel zu sein. Obwohl das auch daran liegen könnte, dass ich eher kleinere, etwa die ostfriesischen, Inseln gewohnt bin.
Die Zugfahrt dauert viel zu lange, etwa anderthalb Stunden. Wir kommen vorbei an der angeblich größten Schmetterlingsfarm Europas und an einem Freizeitpark rund um das Thema Erdbeeren. Das Ziel unseres Zuges ist Świnoujście, was bereits in Polen liegt. Die Grenze verläuft über die Insel, ein kleiner Zipfel ist polnisch. Und das macht sich auch im Zug bemerkbar. Neben den vielen Touristen sitzen auch einige Leute im Zug, die polnisch sprechen. Verrückt, dass ich innert eines Tages bis kurz vor die polnische Grenze gelange.Da kommt schon nach einigen kuriosen Bahnhofsnamen (Bannemin-Mölschow, Neu Pudagla) Heringsdorf an die Reihe. Ich steige aus und benötige einige Zeit, um mich zurecht zu finden.
Die Erwartungen, die ich an einen Ort namens Heringsdorf habe, sehe ich nicht erfüllt. Das liegt vermutlich am etwas niedlich klingenden Namen. Ich stellte mir einen sehr kleinen Ort vor, der direkt am Strand liegt. Mit kleinen backsteinernen Häusern, alles ein bisschen einfach, aber hübsch.
Auf meinem Spaziergang durch den Ort sehe ich etwas ganz anderes. Zuerst fallen mir einige verfallene Villen auf, die ich gleich fotografiere. Ich weiß in diesem Moment nicht, ob ich vielleicht Mitleid haben sollte mit den Menschen, die solche eigentlich doch schönen Ruinen mitten im Ort stehen haben. Doch schon in der nächsten Straße ändert sich meine Meinung komplett. Ich sehe riesige herausgeputze Villen, die überhaupt nicht bröckeln. Ich sehe morderne Häuser, die eher schlecht als recht die Villen zu imitieren versuchen und dabei einen billigen Feriencharme versprühen. Nur, dass es eben 15 Grad sind. Dahinter kommen riesige Hotelanlagen zum Vorschein, die so touristisch wirken, dass der eigentliche Charakter des Ortes schon gar nicht mehr erkennbar ist. Riesenhotel reiht sich an Riesenhotel, Villa an Villa, Ferienwohnung an Ferienwohnung. Wo wohnen hier überhaupt die »Ureinwohner«?
Im ganzen Ort und an der Strandpromenade sind alle mindestens doppelt so alt wie ich. Deswegen und der Hotelburgen wegen fühle ich mich immer ein wenig fehl am Platze. Heringsdorf tut auf luxuriös, dabei ist das meiste nur aufgesetzt und Fassade. Um mit mir und der Welt wieder ins Reine zu kommen, begebe ich mich an den Strand und gönne mir ein Fischbrötchen. Es ist, wie passend, mit Hering belegt.