Viele Menschen haben in den letzten Monaten selbst die abgelegensten Winkel ihrer Wohnungen kennen gelernt, denn es gab ja so viel zu tun, wenn man die ganze Zeit zu Hause ist. Aufräumen, mal gründlich sauber machen, vielleicht ein Zimmer neu einrichten, mit all diesen Dingen kann man sich eine Zeit lang beschäftigen, bis man (zumindest geht es mir so) doch wieder zu dem Bücherstapel greift, den man sowieso noch lesen wollte. Und wenn man richtig viel Zeit hat, Bücher zu lesen, dann fühlt sich das fast schon wie Urlaub an, nur halt zu Hause.
Für alle, die jetzt immer ein wenig Zeit übrig haben und diese Zeit mit Lesestoff füllen möchten, habe ich hier meine letzten Coronalektüren zusammengestellt. Vielleicht können sie für die geneigte Leserin, den geneigten Leser eine Inspiration sein für eigene Lesestunden.
Im Namen der Lüge (Horst Eckert)
Dass Teile unserer Sicherheitsbehörden von extremen Rechten durchzogen sind, ist seit den Berichten rund um den »NSU 2.0« oder das Kommando Spezialkräfte (KSK) längst keine Fiktion mehr. Medien können meist nur einen Außenblick auf die betroffenen Behörden liefern, dieser Roman versucht sich an einem Innenblick. Wir begleiten Melia Khalid, eine Mitarbeiterin im Bundesamt für Verfassungsschutz, die feststellen muss, dass ihre Vorgesetzten nicht nur auf dem rechten Auge blind sind, sondern auch noch aktiv mit der rechten Szene zusammenarbeiten und diese schützen und stützen. Doch wie geht man gegen schwarze Schafe in den eigenen Reihen vor, vor allem wenn sie in der Hierarchie über einem stehen? Horst Eckert beschreibt detailreich, spannend und zugleich bedrückend, wie unsere Staatsorgane aussehen könnten, wenn nicht hart genug gegen die extreme Rechte durchgegriffen wird. Trotz, oder gerade wegen des erschreckenden Themas eine lohnenswerte Lektüre.
Sofies Welt (Jostein Gaarder)
Sofie Amundsen, die in einem nicht näher bekannten Ort in Norwegen wohnt, bekommt eines Tages seltsame Briefe. Irgendjemand schickt ihr regelmäßig einen Philosophiekurs und beantwortet darin Fragen, die sich Sofie vorher noch nie gestellt hat, die aber durchaus ihre Berechtigung haben. Dazu kommen noch seltsamere Postkarten, die Sofie an allen möglichen Stellen findet und die einer gewissen Hilde Møller Knåg zum Geburtstag gratulieren. Bald stellt sich heraus, das hinter dem Philosophiekurs der Philosophielehrer Alberto Knox steckt. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden, was die Geburtstagsgrüße an Hilde, die an immer unmöglicheren Orten auftauchen, zu bedeuten haben und was das alles mit ihrer, Sofies Welt, zu tun hat.
»Sofies Welt« ist gleichermaßen ein Roman wie auch ein Sachbuch. Jostein Gaarder erzählt nicht nur die spannende und immer mehr ins existentielle gehende Geschichte von Sofie, Alberto und Hilde, sondern auch die Geschichte der Philosophie vom antiken Griechenland bis in die Moderne. Das mag auf den ersten Blick ein wenig trocken klingen, aber während Roman und Sachbuch sich anfangs noch gut ergänzen, beginnen sie am Ende sogar, miteinander zu verschmelzen. Das Buch öffnet in vielerlei Hinsicht die Augen und regt vielfach zum Denken an. Ich kann es wärmstens empfehlen.
Zwei Bücher über die Probleme der Deutschen Bahn
Kaum ein Thema ist dankbarer in Smalltalksituationen als das Lästern über die Deutsche Bahn. Fast alle können von Verspätungen, Zugausfällen oder auch einfach sehr anstrengenden Zugreisen berichten. Mit Meckern allein ist aber noch nicht geholfen. Die Probleme der Bahn greifbar zu machen und Lösungsansätze zu präsentieren, das versprechen zwei Bücher, die beide im letzten Jahr erschienen sind: »Schaden in der Oberleitung« von Arno Luik und »Betriebsstörung« von Thomas Wüpper. Wenn man einmal über die Wortspiele in den Buchtiteln hinwegsieht, präsentieren sich die beiden Bücher, obwohl sie das selbe Thema behandeln, sehr unterschiedlich.
Arno Luik ist Reporter für die Zeitschrift Stern und beobachtet nach eigener Aussage bereits lange die Probleme der Bahn, vor allem aber Stuttgart 21. Nachdem der BER tatsächlich langsam fertig wird, scheint S21, wie Luik in seinem Buch gerne abkürzt, die nächste ewige Großbaustelle Deutschlands zu werden. Und weil nicht nur das skandalträchtig ist, widmet er das erste (sehr lange) Kapitel komplett diesem Bauprojekt. Und es stimmt, aus heutiger Sicht würde man Stuttgart 21 nicht mehr bauen. Das sagt sogar Bahnchef Lutz. Und ziemlich sicher wird bei der Vergabe von Aufträgen und in der gesamten Planungsphase nicht immer alles mit rechten Dingen zugegangen sein. Beim Lesen stellt sich jedoch schnell der Eindruck ein, Arno Luik habe sich vielleicht zu sehr mit Stuttgart 21 beschäftigt. Als würde ihm dieses Thema langsam an die Substanz gehen. Anders ist es nicht zu erklären, dass er sich in immer dramatischeren Worten verheddert oder seitenlang über Korruptionen rumort (ohne greifbare Beweise).
Wäre das doch nur auf das Stuttgart-21-Kapitel beschränkt! Doch leider hört es danach nicht auf. Luik sagt an sich gar nicht mal falsche Dinge, aber wie er sie sagt, so klingt es für mich einfach nur verbittert und vom Leben enttäuscht. Luik trauert einer Eisenbahnnostalgie hinterher, die es vor der Bahnreform 1992 vielleicht noch in Ansätzen gab und natürlich, das würde auch ich unterschreiben, hat die Bahnreform der Eisenbahn in Deutschland oft mehr geschadet als genutzt. Die Lösung kann aber nicht die Rolle rückwärts sein sondern ein großer Schritt nach vorn. Und damit kommen wir zum zweiten Bahnbuch.
Thomas Wüpper ist Wirtschaftsjournalist und auch er beschäftigt sich schon länger mit der Deutschen Bahn. Sein Buch »Betriebsstörung« berichtet über viele Probleme der Bahn, die auch in Luiks Buch angesprochen werden – und ist doch ganz anders. Zuallererst die Sprache: Wo Luik poltert, raunt und dramatisiert, bleibt Wüpper sachlich. Dabei zeigt er dennoch die Dringlichkeit des Themas auf, schreibt fachlich versiert und trotzdem verständlich. Ein weiterer Unterschied liegt in den Schlüssen, die Wüpper zieht. Während sich Luiks Lösungsvorschläge für die Bahn auf eine kleine Aufzählung am Ende seines Buches beschränken, widmet Wüpper seiner Vision einer neuen Bahnreform einen ganzen Buchteil. So soll die Deutsche Bahn AG nicht mehr länger eine Aktiengesellschaft sein und die DB-Tochtergesellschaften wieder zusammengefasst werden. Die Verantwortung für die Bahnhöfe und das Schienennetz sollen an eine staatliche Infrastrukturgesellschaft ausgegliedert werden, die unabhängig von der DB und ihren Interessen agieren kann. Wüpper schaut auch nach links und rechts und zeigt dabei mögliche Kritikpunkte seiner Reformideen auf. Nach der Lektüre muss der Smalltalk über die Bahn nicht mehr oberflächlich bleiben.
Auch wenn Arno Luiks »Schaden in der Oberleitung« weitaus prominenter in den meisten Buchhandlungen beworben wird, kann ich von der Lektüre eigentlich nur abraten. Alles, was in diesem Buch steht, findet sich auch in Thomas Wüppers »Betriebsstörung«, nur sachlicher beschrieben, besser eingeordnet und mit einer umsetzbaren Idee, wie die deutsche Eisenbahn in Zukunft aussehen könnte, wenn nicht sollte.
Horst Eckert: Im Namen der Lüge, Heyne Verlag, 571 Seiten, 12,99 EUR
Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie, Hanser Verlag, 606 Seiten
Arno Luik: Schaden in der Oberleitung – Das geplante Desaster der Deutschen Bahn (Inklusive der wahren Geschichte von S21), Westend Verlag, 293 Seiten, 20,00 EUR
Thomas Wüpper: Betriebsstörung – Das Chaos bei der Bahn und die überfällige Verkehrswende, Ch. Links Verlag, 249 Seiten