Gerade noch rechtzeitig habe ich es ans Berliner Ostkreuz geschafft, mein Zug nach Frankfurt (Oder) wartet noch auf mich. Auch wenn Frankfurt sehr sehenswert sein soll, ist mein Zwischenstopp hier nur kurz. Mein erstes heutiges Ziel liegt von Frankfurt etwa zwanzig Minuten südlich: Eisenhüttenstadt.
Ein wenig seltsam mutet dieser Name an, sehr funktional. Warum fahre ich gerade hier hin? Eisenhüttenstadt (ehemals Stalinstadt) ist eine Planstadt. Sie ist vollständig am Reißbrett geplant und im Gegensatz zu fast allen anderen Städten in Deutschland eben nicht historisch gewachsen. Dafür konnten sich die Planerinnen und Planer damals, 1950, ein Konzept ausdenken, wie diese Stadt funktionieren sollte. Nur selten wird der Stadtplanung so viel Macht zuteil. In der ehemaligen Sowjetunion, im heutigen Russland und der Ukraine, trifft man Planstädte häufiger an. In Deutschland sind sie eher unüblich. Grund genug, sich das einmal aus der Nähe anzuschauen.
Als ich aus dem Bahnhof trete, bin ich doch etwas überrascht, ganz normale, nicht nach sozialistischer Planstadt aussehende ältere Häuser anzutreffen und sogar ein historisches Bahnhofsgebäude. Das kann doch unmöglich erst 1950 entstanden sein!
Ist es auch nicht. Direkt nebenan liegt die Stadt Fürstenberg (Oder), von der Eisenhüttenstadt den Bahnhof geborgt hat. Fürstenberg ist keine Planstadt und hat ein historisches Zentrum mit Kirche und allem, was dazu gehört. Nach Eisenhüttenstadt geht es vom Bahnhof aus gesehen in die andere Richtung. Das ist erst einmal eine große und breite Straße mit breiten Bürgersteigen und einigen Industriegebäuden und Läden nebendran. Die Straße führt sehr lange nur geradeaus. Für mich als Fußgänger ist das öde und die heißen Temperaturen machen den Spaziergang auch nicht angenehmer.
Schließlich erreiche ich das »City Center«, was sich allerdings lediglich als überdimensionales Einkaufszentrum herausstellt. Gegenüber beginnen die ersten Häuserblocks. Nach einem Stadtzentrum sieht das nicht aus.
Eisenhüttenstadt ist sehr weitläufig. Die Straßen haben wenige bis gar keine Kurven, fallen überbreit aus, ebenso wie die Gehwege nebendran. Und die Straßen sind lang. Mit dem Auto oder dem Bus mag das kein Problem sein, aber zu Fuß ist das ewige Geradeauslaufen irgendwann langweilig. Es gibt zumindest an dieser Straße auch nichts zu sehen außer ewig lange Häuserblöcke.
Schließlich kommt doch eine Querstraße zum Vorschein und im Nachhinein vermute ich, dass hier das Stadtzentrum sein soll. Die Lindenallee ist ebenfalls viel zu breit und erinnert von der Anlage der Parkplätze entfernt an US-amerikanische Kleinstadtzentren. Die Autos parken quer zur Straße direkt vor den Läden an der linken und rechten Straßenseite. Trotzdem ist der Bürgersteig sehr breit. Es fühlt sich an, wie eine Fußgängerzone, die jemand in der Mitte durchgeschnitten hat und die breite Straße dazwischengequetscht hat. Einen Einkaufsbummel kann man hier auch erledigen; und zum Glück ist es kein Problem, wenn ein Geschäft auf der anderen Straßenseite liegt, denn viel Autoverkehr gibt es zumindest in dieser Straße nicht.
Mitten in der Lindenstraße steht ein Theater, das etwas aus dem Stil der umliegenden Häuserreihen hervorsticht.
Mit der Planung von Eisenhüttenstadt wurden Ziele verfolgt, die bis heute in der Stadtplanung eine wichtige Rolle spielen. Wie der Name bereits verrät, ging es ursprünglich (und zum großen Teil auch heute) darum, Wohnraum für die Beschäftigten aus der nahen Eisenhütte zu schaffen. Dabei wurde vor allem mit Wohnblöcken gearbeitet, die allerdings anders aussehen als die bekannten DDR-Plattenbauten. Je nach Bauabschnitt sehen die Wohngebäude mal besser und mal schlechter aus, aber gerade im so genannten Wohnkomplex II sehen die Gebäude von außen teils richtig schick aus. In jedem Wohnkomplex (vergleichbar mit einem Stadtteil) gibt es fußläufig erreichbare Nahversorgung, also Supermärkte, Spielplätze, kleine Park- und Grünanlagen. Hier macht es Spaß, zu Fuß unterwegs zu sein. Außerhalb der Wohnkomplexe, vor allem an den Hauptstraßen, wurde wohl vor allem für den Autoverkehr geplant.
Rund um die so genannte Magistrale sollen laut Informationstafel besonders viele repräsentative Gebäude stehen. Ich konnte nur das monumentale Rathaus finden. Ansonsten hatte ich keine Lust, wieder eine endlos lange Straße herunterzulaufen.
Vielleicht habe ich es bei meinem Besuch nicht gefunden, aber mir fehlt in Eisenhüttenstadt ein richtiges Stadtzentrum. Mit Fußgängerzone und engen Straßen und Plätzen. Aufenthaltsqualität hat Eisenhüttenstadt nicht wirklich, durch die Weitläufigkeit fehlt der Halt in der Stadt. Gerade als Fußgänger fühle ich mich häufig verloren zwischen großen Häusern sowie breiten und langen Straßenzügen.
Das sehen wohl auch die Einwohner so. Zumindest hat sich ihre Zahl seit 1990 mehr als halbiert. Inzwischen werden erste Wohnblöcke schon abgerissen, weil niemand mehr darin wohnen möchte. Mit gemischten Gefühlen verlasse ich die Stadt in Richtung Bahnhof.
Mit dem Zug geht es weiter in Richtung Süden. In Cottbus steige ich um, noch weiter nach Süden. Die offene Landschaft wird immer waldiger und bald deutlich hügeliger. Für norddeutsche Verhältnisse könnte es schon bergig sein.
Nächster Halt: Görlitz. Ich bin schon vom Bahnhof begeistert. Die Bahnsteige liegen in einer Halle, aber gerade die Eingangshalle ist wirklich sehenswert. Decke und Boden sind gemustert, Kronleuchter hängen von oben herab. Alles ist sehr hübsch. Aber das hört beim Verlassen des Bahnhofs nicht auf. Görlitz ist eine der schönsten Städte, die ich bisher gesehen habe. Die Innenstadt, aber auch die meisten darüber hinausgehenden Stadtteile bestehen komplett aus Altbauten, im Stadtzentrum kann man sich vor Sehenswürdigkeiten gar nicht retten. Man braucht nur um eine Ecke biegen, schon wartet der nächste Platz, die nächste Straße mit einer großen Kirche, einem Turm oder auch einfach nur vielen sehr schönen Gebäuden auf. Die Straßen sind verwinkelt und unregelmäßig, es geht mal auf, mal ab. Kein Wunder, dass hier der Kulisse wegen regelmäßig Historienfilme gedreht werden, übrigens auch bei meinem heutigen Besuch. Wären die Autos nicht da, könnte man meinen, im Jahr 1900 zu sein.
Während mir die Villen in Heringsdorf häufig sehr protzig vorkamen, ist in Görlitz alles stimmig. Die Häuser, seien sie noch so prächtig, fügen sich wunderbar ins Gesamtbild ein. Gerade am Anfang fällt es mir schwer, ob solch vieler architektonischer Schönheit nicht ständig mit offenem Mund stehen zu bleiben. Leider können meine Bilder diese Schönheit der Stadt nur schwer abbilden. Man muss es wohl mit eigenen Augen gesehen haben.
Ich bleibe an einem Café stehen, das mit einer Spezialität wirbt, die mir nur allzu bekannt ist, »Schlesische Mohnklöße«. Hierzu zwei Dinge: Ein Teil meiner Familie kommt aus dem heutigen Polen, aus der Region Schlesien. Dort war es unter anderem üblich, immer zu Weihnachten besagte Mohnklöße zu essen. Dafür werden, grob gesagt, Mohn und Brötchenwürfel in einer Schüssel vermengt, mit kochender Milch übergossen und kaltgestellt. Aus der kalten Masse kann man dann Klöße formen, aber bei uns waren das meistens eher (sehr leckere) Haufen.
Diese Tradition ist bei uns geblieben, auch wenn meine Familie längst nicht mehr in Schlesien wohnt.
Lange Zeit dachte ich, nach dem zweiten Weltkrieg sei Schlesien komplett polnisch geworden. Das stimmt allerdings nicht ganz, denn Görlitz gehört zu einem kleinen Zipfel Schlesiens, der noch in Deutschland liegt. In Görlitz scheint man stolz darauf zu sein. So gibt es nicht nur Cafés und Restaurants, die schlesische Spezialitäten anbieten, sondern auch ein Schlesienmuseum.
Ich gehe hinunter zum Ufer der Neiße. Unterwegs sehe ich einen Laden, der Softeis verkauft. Einem ähnlichen Stand begegnete ich schon in Heringsdorf, dort mit »DDR Softeis« angekündigt. Offenbar war es in der DDR üblich, statt dem italienischen Speiseeis Softeis zu essen. Ich erinnere mich sogar daran, in der sächsischen Schweiz, in Pirna, nirgendwo italienisches Eis, dafür umso mehr Softeis-Angebote gefunden zu haben. In Heringsdorf war es für Eis einfach zu kalt, nun ist die Temperatur gerade richtig. Ich bestelle also eine kleine Portion Softeis Schoko-Vanille in der Waffel und bekomme eine riesige Portion, die trotzdem nur 1,30 € kostet. Ich möchte nicht wissen, wie riesig die große Portion sein muss.
Mit Eis bewappnet betrete ich die Brücke über die Neiße. Bereits in Heringsdorf war die polnische Grenze nicht weit. Hier liegt sie nun wirklich zum Greifen nah. Denn das andere Ufer gehört schon zu Polen. Und die dortige Stadt Zgorzelec hängt nicht nur durch die Brücke eng mit Görlitz zusammen. Beide Städte waren früher eine einzige Stadt. Seit 1945 gehört der östliche Teil zu Polen, lange Zeit war die Grenze zwischen den zwei Stadt-Teilen deutlich zu spüren. Seit 1998 bezeichnen sich beide Städte als eine gemeinsame »Europastadt« und die Brücke, über die ich laufe, ist ein besonderes Zeichen dieser Verbundenheit. Erst im Jahr 2004 erbaut, kann man hier völlig ohne Grenzkontrolle in den anderen Teil der Stadt laufen und fast ohne es zu merken, die deutsch-polnische Grenze überqueren. Ein paar Minuten gehe ich durch Zgorzelec, ehe ich doch wieder umkehre. Leider habe ich nicht so viel Zeit, wie ich gerne hätte.



Und das gilt auch für Görlitz. Es gibt so viel zu sehen, dass ein Nachmittag dafür kaum ausreicht. Wer Görlitz gerecht werden möchte, sollte sich mindestens ein Wochenende Zeit nehmen, um alles in Ruhe anzuschauen. Von meinen bisherigen Zielen ist Görlitz ganz klar der Favorit. Eine Reise hierher kann ich uneingeschränkt empfehlen, es lohnt sich wirklich sehr. Und auch ich werde wiederkommen müssen.