Es ist früh am Morgen. Die Stadt wacht gerade erst auf, einzelne Autos und Fahrräder rollen über die große Kreuzung. Die Sonne taucht am Horizont auf und wirft ihre Strahlen durch die Straßen. Auf einmal kommen sie. Es sind viele, ein ganzer Pulk. Erst sind es zwanzig, irgendwann fünfzig, sogar hundert. Sie kommen der Kreuzung näher und fahren weiter hinein in die Stadt. Das alles wäre nicht weiter erwähnenswert, würde es sich hier nicht um Fahrräder handeln. Insgesamt sind es 500.000 Menschen, die sich täglich in Kopenhagen aufs Fahrrad schwingen. Sie fahren mit ihm zur Arbeit, zum Einkaufen und zu Freunden. Nirgendwo sonst auf der Welt liegt der Anteil der Radfahrer am Gesamtverkehr so hoch wie hier: 63 Prozent.
In Bremen liegt dieser Anteil deutlich niedriger, nämlich bei ca. 25 Prozent. Dieser Wert sei schon seit Jahren auf diesem Niveau, sagt Albrecht Genzel vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) in Bremen: »Es stagniert. Das hängt aus unserer Sicht auch mit dem Tun und Lassen der Verwaltung zusammen.« Genzel und der ADFC würden diesen für deutsche Großstädte bereits sehr hohen Wert gerne noch weiter steigern. Aber da gibt es einige Hindernisse. Aus ihrer Sicht ist das Amt für Straßen und Verkehr, das in Bremen auch für den Radverkehr zuständig ist, zu ängstlich, etwas zu verändern. »Sie sollten sich selbst etwas mehr zutrauen. Ich glaube, könnten es sehr gut, aber es gibt immer gleich große Bedenken, wenn etwas nicht genau nach Punkt und Komma der Straßenverkehrsordnung und den Verwaltungsvorschriften entspricht. Das ist sehr schade, das war auch mal anders hier in Bremen.«
In den 1980er-Jahren, zur Gründungszeit des ADFC, gab es einen regelrechten Fahrrad-Boom in Bremen. Klaus Hinte, damals Leiter der Straßenverkehrsbehörde, machte mit neuen Ideen zur Fahrradförderung auf sich aufmerksam. Vieles hatte er sich aus den schon sehr fahrradfreundlichen Niederlanden abgeschaut, einiges auch selbst erdacht. So ließ er eine Fahrrad-Ringspur in den Kreisverkehr »Stern« bauen, erlaubte das Radfahren entgegen Einbahnstraßen und ließ die ersten Fahrradstraßen Deutschlands bauen – alles in Bremen.
Auf Klaus Hinte angesprochen erwähnt Genzel zwei Merksätze, die dieser seiner Verkehrsplanung zu Grunde gelegt hat. Erstens: Wir müssen den Starken bremsen und den Schwachen fördern. Der schwache Radfahrer sollte also erstmals mehr Fläche und teilweise sogar Vorrang vor dem ohnehin starken Autofahrer bekommen. Zur damaligen Zeit, in der die Verkehrsplanung noch sehr autozentriert war, kam das einer Revolution gleich. Der zweite Merksatz lautete: Wer sich sieht, fährt sich nicht um. »Die Unfallforschung sagt allgemein, dass die meisten Unfälle mit Fahrradbeteiligung an den Einmündungen passieren«, so Genzel. Deswegen sei es wichtig, dass Radwege immer so gebaut würden, dass Rad- und Autofahrer sich gegenseitig sehen können. Auch in Bremen werden Radwege trotzdem häufig hinter Bäumen oder parkenden Autos geführt, was meist die Sicht aufeinander versperrt. Am Ende könne die Infrastruktur allein aber nicht den Verkehrsteilnehmern die gesamte Verantwortung abnehmen. Gerade für den schwachen Radfahrer sei vorrausschauendes Fahren unabdingbar: »Das heißt also insbesondere bei Radwegen, die viele Unterbrechungen haben, also Grundstücksüberfahrten und Einmündungen, immer damit zu rechnen, dass ein Autofahrer nicht an dich denkt und einfach mal schnell abbiegt.«
Irgendwann ging Klaus Hinte in den Ruhestand und in der Straßenverkehrsbehörde kehrte wieder Alltag ein. Das heißt, genaues Einhalten aller Regeln und Vorschriften, möglichst wenig riskieren oder ausprobieren. »Bedauerlicherweise sind einige sehr fortschrittliche Straßenmarkierungen aus Klaus Hintes Zeiten wegradiert worden«, sagt Genzel. Es hätte nie Probleme deswegen gegeben, aber aus der neuen Sicht der Behörde seien sie einfach nicht richtig gewesen. Dennoch sind viele von Klaus Hintes Ideen noch bis heute sichtbar. So hat Bremen nach wie vor ein sehr dichtes Radwegenetz in der gesamten Stadt, was sicherlich ein Grund für den vielen Radverkehr ist.
Doch dieses Radwegenetz wurde seitdem nicht groß verändert. Inzwischen ist vieles schon veraltet, modernisiert wird nur sporadisch. Doch Genzel und der ADFC glauben an die Fahrradfreundlichkeit und setzen sich auch im Bremer Verkehrsdezernat ständig für Verbesserungen ein. Dort sitzen sie regelmäßig mit Vertretern von Ämtern, Behörden und der Polizei zusammen, um über geplante Verbesserungen im Bremer Radverkehr zu diskutieren. Häufig kann der ADFC an dieser Stelle Verbesserungen für Radfahrer herausholen, die auch tatsächlich umgesetzt werden. Zudem betreibt der ADFC eine Mängeldatenbank, in die alle an ihn gemeldeten Mängel der Fahrradinfrastrkutur eingetragen werden. »Das fängt an bei einer zu hohen Bordsteinkante und endet darin, dass bestimmte Radwege zu schmal sind oder zu dicht an geparkten Autos vorbei geführt werden«, sagt Genzel. Inzwischen, fügt er an, zähle die Datenbank schon über 1200 Meldungen. Diese Mängel kann der ADFC dann in seinen Gesprächen mit den Behörden ansprechen.
Mängel sind aber nicht das einzige, was der ADFC akribisch sammelt. Eine ganze Gruppe so genannter Radtourenleiter beschäftigt sich regelmäßig damit, gute Strecken für Radtouren in Bremen und der Region herauszufinden. Auch Genzel hat hier Anregungen parat: So nennt er den Jan-Reiners-Weg, auf dem man von Horn bis Trupermoor im Verlauf einer ehemaligen Kleinbahntrasse weitestgehend unabhängig vom übrigen Verkehr quer durch Bremen fahren kann. Und auch am Weserufer, durch Kleingartengebiete und an den Fleetgräben, etwa im Blockland oder in Oberneuland, »da gibt es viele schöne Strecken, auf denen man stressfrei und wenig von Autos belästigt unterwegs sein kann«, ergänzt er. »Außerdem kann man auch immer relativ blind nach Wegweisung fahren.« Die Fahrradwegweisung in Bremen sei gut ausgebaut und zeige gute Wege durch die Bremer Stadtteile. »In Bremen geht man mit dem Fahrrad nicht verloren!«
Auch, wenn in letzter Zeit keine großen Veränderungen im Bremer Radverkehr stattfanden, sind große Dinge geplant. Dazu gehören die so genannten Premiumrouten. Das sind Strecken, auf denen Radfahrer besonders komfortabel unterwegs sein sollen. So bekommen sie öfter Vorfahrt vor anderen Verkehrsteilnehmern, die Ampeln zeigen häufiger Grün für die Radfahrer und es wird mehr Platz als auf gewöhnlichen Radwegen zur Verfügung stehen. Das Ziel ist, ein Netz aus neun bis elf solcher Premiumrouten in Bremen zu erstellen. Dafür sind teilweise größere Umbauten erforderlich. Im Augenblick in der Planung befindet sich eine Premiumroute von Mahndorf bis nach Farge. Immer parallel zur Weser geht es einmal komplett durch Bremen, wobei die Strecke nicht direkt an der Weser entlangführt, sondern durch die angrenzenden Stadtteile. »Das wäre ein Durchbruch, wenn wir diese Premiumroute haben«, sagt Genzel, »Es würde einfach einen anderen Standard bringen.«
Einen Standard, den es in Kopenhagen schon längst gibt. In den 70er-Jahren wurde dort begonnen, ganze Fahrspuren von Straßen in Fahrradspuren umzuwandeln. Im Gegensatz zu Bremen traute sich Kopenhagen aber deutlich mehr zu. So kommt es nicht von ungefähr, dass die dänische Metropole zur Welthauptstadt des Fahrrades werden möchte. Auch in der Hansestadt mangelt es nicht an guten Ideen. Es wird sich zeigen, ob wir auch in Zukunft wieder als »die Fahrradstadt« gelten werden.
Dieser Beitag erschien auch im »ScheinWerfer – Bremens freies Unimagazin«.